Sonntag, 25. September 2016

Der Marktpreis von Leben

Wenn Zivilcourage und Menschlichkeit in der Stellenbeschreibung fehlen

Dies hier wird jetzt sicherlich nicht mein bester Blogeintrag. Ich schreibe ihn mit Emotion im Bauch. Gleichzeitig schreibe ich ihn, ohne dass ich Hoffnung darauf hätte, dass sich der Zustand, den ich so schlimm finde, in absehbarer Zeit wieder ändern wird.

Zur Vorgeschichte:

Samstag Abend hatte Katha, meine Frau die Idee, spontan ein gutes Werk zu tun. In einer Tierhilfeseite im Web hat eine junge Frau eine Fahrgelegenheit für einen offenbar verletzten Igel in eine Tierklinik in der Nähe gesucht. Weil das Fernsehprogramm schlecht war und wir an dem Abend noch nix anderes vorhatten, haben wir spontan zugesagt. Kurz und gut, wir haben das Mädel (ich nenn sie im weiteren Verlauf des Blogs Anna) mit samt dem Igel an einem Parkplatz einsteigen lassen und sind los. Das Tier hatte vermutlich eine Verletzung oder Vergiftung oder auch einen Biss. Gefressen hatte er. Aber trotzdem war er danach müde und apathisch. Und vor allem zog das Tierlein die beiden Hinterfüße nach. Was genau passiert ist, konnte uns Anna, die ihn mit uns in die Klinik fuhr nicht sagen, da ihn Nachbarn zu ihr gebracht hatten. Sie selber studiert etwas in Richtung Biologie, was in Freising ja nicht selten ist und kennt sich ein wenig mit solchen Viecherln aus. 

Lange Rede kurzer Sinn:

In der Tierklinik im Münchner Norden angekommen, war erst mal nicht allzu viel los. Also bestand ja bei uns Hoffnung, dass da schnell jemand sich das arme Viecherl  ansehen könnte. Doch weit gefehlt. Die junge Tierärztin, die an den Empfang kam, glänzte durch die Aussage, das einzige, was sie machen könne, wäre, das Tier zu euthanasieren. Wohl gemerkt: Ein Wirbeltier einzuschläfern, ohne es auch nur eine Sekunde in der Transportbox angesehen zu haben, kam uns dreien nicht sehr professionell vor.

Auf meine irritierte Frage, warum sie sich den kleinen Kerl nicht wenigstens mal ansehen wollte, kam die Antwort, Wildtiere behandeln dürfe sie nicht, das verbäte der Tierklinik der zuständige Jagdpächter. Auf unsere Antwort, wir kämen aus Freising, welches gut 20 Kilometer weg läge, folgte dann die Ausrede, dass das Gebiet gerade noch zu dem selben Jagdpächter gehöre. Spätestens jetzt war selbst mir als Laien klar, dass es sich um eine ziemlich billige Ausrede handeln müsste. Soviel kannte selbst ich mich aus, dass das auf gut bayerisch ein Schmarrn war. Meine sarkastische Antwort, dass ein Igel im übrigen kein Jagdwild sei, wurde kommentiert, nein sie dürfe ihn nicht behandeln. Auch war sie weiterhin nicht bereit, sich das Tier wenigstens anzusehen. 

Der einzige Vorschlag, der dann kam, war die Telefonnummern von zwei ehrenamtlichen Igelstationen heraus zu suchen, bei denen meine Frau und Anna dann angerufen, aber wegen Uhrzeit  Samstag Abend 22 Uhr natürlich niemand mehr erreicht hatten.

Mir platzte nun der Geduldsfaden und ich lies dezent die Worte "hippokratischer Eid und keine Hilfe für ein verletztes Wirbeltier" im passenden Satzzusammenhang fallen. Alles, was wir schließlich erreichten, wäre gewesen, dass uns ein harmloses Schmerzmittel zum oral geben verkauft worden wäre, welches die Igelretterin aber in Freising selber zu Hause für ihre Haustiere auch schon hatte. Wobei eingeben schon ein wenig schwierig ist, wenn ein Wildtier satt und gleichzeitig mutmaßlich offenbar verletzt ist.

Auch nur eine einzige schmerzlindernde Spritze zu geben, oder natürlich davor wenigsten mal den armen Igel mal abzutasten, ob Verletzung, Bruch, Hämatom, Biss oder what ever, war bereits zu viel verlangt. Die Damen hinter dem Tresen der Klinik weigerten sich weiterhin standhaft sich auch nur ein wenig körperlich oder geistig-seelisch zu bewegen. Nachdem die Ausrede mit dem Jagdpächter nicht mehr gezogen hatte, wurde uns dreien nun aufgetischt, dass man sich bei der Anatomie dieses Tieres nicht auskennen würden und eine Behandlung, weil diese Tiere ja oft viele Parasiten hätten, nicht zielführend sei und sich auch nicht lohnen würde. All das, obwohl wir mehrfach erwähnten, dass wir die Behandlung natürlich bezahlen würden. Wir verließen nun stinksauer diese Klinik.

Die junge Frau, und mein Holdes Weib suchten nun im Web nach Tierarztnotdiensten in der Region, während wir nach Freising zurück fuhren. Sie wurden sogar fündig und riefen dort an. Nach kurzer Diskussion am Telefon wurde uns nur gesagt, wir bräuchten gar nicht vorbei kommen, weil wir ja jetzt schon alles besser wüssten und sicherlich sei das Tier querschnittgelämt und müsste nur euthanasiert werden. Faszinierend, wie weit Ferndiagnostik und Hellsehen in der bayerischen Veterinärmedizin inzwischen verbreitet zu sein scheinen. Wer mich kennt, könnte sich so eine Reaktion einer Tierärztin durchaus vorstellen, wenn ich erst in Rage und sauer bin. Da aber "nur" meine Frau und Anna mit der Dame gesprochen hatten und beide sehr freundlich am Telefon gewesen waren, löste diese Reaktion nun nur noch Kopfschütteln bei uns allen dreien aus.

Am Ende fand ich am Verstörendsten weniger die Reaktion der Notdienst schiebenden Tierärztin aus der Hallertau, die wir am Schluss im Auto versucht hatten, zu erreichen. Das kann immer mal passieren. Jemand bekommt etwas in den falschen Hals und hatte vorher einen schlechten Tag gehabt. 

Was an dem gesamten Vorfall so elend war, war diese vollständige Ignorenz davor in der Tierklinik. Man bringt ein offensichtlich verletztes Lebewesen vorbei und jemand, der offenbar noch recht frisch Medizin studiert hat (für mich ist auch Veterinärmedizin eine Form von Medizin), weigert sich, auch nur einen einzigen Blick auf einen Notfallpatienten zu werfen. Noch nicht einmal das Finanzielle (was im Kapitalismus eher vorgeschoben wird, wenn man menschliches Leid nicht lindern mag) war das Problem. Natürlich hätten wir Behandlungskosten übernommen. Man verschanzt sich hinter Vorschriften (die es teilweise so gar nicht gibt) und ist nicht bereit, nach Ethik und grundlegendsten humanitären Vorgehensweisen zu handeln. Offensichtlich, weil man einfach keine Lust hat, sich groß damit zu belasten. Jede 0,2 Prozent Versicherungsproblematik und jede Unbill sind mehr wert, als der Hippokratische Eid, Leben zu retten oder Schmerzen zu lindern. 

Wenn so Medizin und Heilberufe an Schule und Uni gelehrt werden, dass so ein Ergebnis heraus kommt, dann haben wir ein Problem. Ein ähnliches Problem, welches ich in meinen Blogs vielfach seit Jahren schon bei Juristen oder in Verwaltungen beschrieben habe. Ignoranz gemischt mit mangelnder Kreativität. Denkfaulheit gepaart mit Egoismus, der eigenenes Wohlbefinden immer über das Recht anderer Menschen oder Kreaturen stellt. Existenziell für unsere Gesellschaft wird dieses Problem, wenn es nun die helfenden Berufe auch noch erreicht hat. Wenn in der aktuellen Generation kaum einer mehr bereit ist, über den eigenen Schatten zu springen und zu helfen und Leid zu lindern, dann ist die gesamte sogenannte Ethik, Philosophie und Gesetzgebung der letzten 3000 Jahre nicht den verdammten Dreck unter einem Fingernagel wert.

Ich weiß. Es ist "nur" ein Igel. Es ist aber auch immer nur der erste Tropfen zuviel, der den Dammbruch auslöst. Sollten wir die Rechnung als Menschliche Gattung für unser gesamtes Verhalten jemals bezahlen müssen, dann will ich das dereinst nicht mehr erleben müssen.

PS.: Als ich dies schreibe ist es Sonntag Mittag. Noch lebt der Igel. Er hat wohl auch ein wenig gefressen.